Donnerstag, 22. Juni 2023
Wer weint denen schon eine Träne nach?
Wir leiden gerade alle mit: Vor ein paar Tagen verschwand der Tauchroboter „Titan“, der ein paar Millionäre (oder waren es Milliardäre?) zum Wrack der Titanic bringen sollte. Fünf Männer waren an Bord, die für dieses Abenteuer etwa eine Viertelmillion bezahlt haben. Als man den Kontakt verlor, wurde die US-amerikanische und kanadische Küstenwache informiert, die sofort eine großangelegte Suche startete. Immerhin steht das Leben von fünf Menschen auf dem Spiel.

Vor gut einer Woche kenterte ein Flüchtlingsboot, das mit etwa 700 Flüchtlingen komplett überfüllt war. Gut hundert Flüchtlinge konnten gerettet werden, die meisten starben wohl in den Fluten. Diese Meldung schaffte es auch in die Nachrichten – aber sie war keine so große Meldung wie das Abenteuer der Millionäre. Es handelte sich hier ja auch um arme Leute. Und irgendwie scheint für die unser Mitgefühl nicht so groß zu sein.

Die Armen sind ja auch Menschen, die erst einmal unsere Hilfe brauchen – und unser Geld will. Ein Millionär verpestet mit seinem Lebensstil zwar die Umwelt (was sucht man auch in 3800 Meter Tiefe, nur um ein Wrack zu sehen?), aber wenigstens will er kein Bürgergeld. Er betreibt allenfalls Steuervermeidung – und erzeugt damit einen Schaden, der höher ist als jede finanzielle Zuwendung, die ein Flüchtling je bekommen könnte. Doch das kreiden wir ihm nicht negativ an, auch wenn es einen immensen Schaden für die Gesellschaft erzeugt.

Im Mittelalter hatte der Adel alles, die Bürger nichts. Wenn man die Geschichte der Menschheit erzählt, dass ist es die Geschichte von Päpsten, Königen und Grafen. Der einfache Mensch kommt nicht vor. Obwohl wir uns seit etwa 2000 Jahren als Christen bezeichnen und seit einigen Jahrzehnten in einer Demokratie leben, kennen wir immer noch den feinen Unterschied zwischen „wichtigen Menschen“ und dem Rest.

Und nur den wichtigen Menschen gilt unsere Aufmerksamkeit. Wer weint den anderen schon eine Träne nach?
K.M.