Samstag, 14. April 2012
Die ängstliche Demokratie
Ein Aufschrei geht durch die Republik: Die Salafisten verteilen kostenlose Exemplare des Korans. Wieso, so wundert man sich, regt man sich darüber auf? Verteilen die Christen kostenlose Exemplare der Bibel, so ist das doch auch keine Meldung wert.

Der Grund für die Aufregung liegt darin, so liest man in der Presse, dass es sich bei den Salafisten nicht um irgendeine islamistische Gruppierung handelt, sondern um eine radikale Gruppe, die auch noch terroristischen Organisationen nahestehen soll. Die Salafisten verteilen also nicht nur den Koran, sondern machen auch noch Propaganda für ihr mittelalterliches Weltbild? Nö. Sie verteilen nur den Koran.

Warum ist das ganze dann überhaupt eine Meldung wert? Lassen wir uns nun von Radikalen mit ihren menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Taten und Äußerungen die Themen bestimmen? Es sieht ganz so aus.

Wir reagieren auf das Verteilen des Korans wie eine Gruppe Hühner, in deren Stall sich ein Fuchs eingeschlichen hat. Und auch wenn der Fuchs einen Maulkorb trägt und im Moment zumindest gar nicht beißen kann: Wir flattern nervös umher, als gehe die Welt unter. Denn die Demokratie hat Angst.

Nach dem Fall des Ostblocks haben wir uns selber herzlich gratuliert: Die Demokratie hat gewonnen, die Demokratie ist das bessere System. Doch seit Jahren nimmt die Politikverdrossenheit zu und immer weniger Menschen gehen zur Wahl - oder wählen mit den Piraten eine Partei, die selber noch nicht weiß, was sie eigentlich will. Zugleich steigt die Ungleichheit in unserem Land - die Reichen werden immer reicher, die Armen bleiben zurück. Man hat nicht mehr den Eindruck, dass die Politik für alle da ist - und dann sind auch nicht mehr alle für den Staat und die Demokratie da.

Und so ängstigt sich die Demokratie schon, wenn nur das Gerücht aufkommt, ein Fuchs könnte in der Nähe sein.
P.H.



Sonntag, 8. April 2012
Was man nicht weiß...
Zu Ostern hat man mal wieder Zeit für die Familie. Man trifft sich, und lässt die Kleinen nach den vorher versteckten Eiern suchen, auch wenn dies beim heutigen Wintereinbruch in München eine kühle Angelegenheit wird. Und wenn die Eier gefunden sind, dann setzt man sich an den üppig gedeckten Tisch. Schließlich will man sich was Gutes tun.

Dumm ist nur, dass man bei den bunt gefärbten Eiern aus dem Supermarkt gar nicht weiß, ob man sich was Gutes getan hat. Denn auch wenn wir ansonsten peinlich darauf achten, Eier aus Freilandhaltung oder gar Biohaltung zukaufen - zu Ostern kann es uns passieren, dass uns schäbige, aber zumindest bunt gefärbte Käfigeier untergejubelt werden.

Aber was soll man sich beschweren: So läuft der freie Markt nun einmal. Zwar soll sich dank Angebot und Nachfrage die optimale Versorgung aller einstellen, doch wenn die Nachfrage gar nicht weiß, wie das Angebot aussieht, dann kommt halt irgendwas auf den Tisch.

Das denkt sich wohl auch die Lebensmittelindustrie, die unseren Kleinen immer neue Leckereien anbietet. Natürlich nur darauf ausgerichtet, was gut für die Kleinen ist. Doch eine Untersuchung der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch zeigt, dass die speziellen Produkte für Kinder vor allem eines sind: fett und voller Zucker. Und dafür auch noch deutlich teurer als vergleichbare Produkte für Erwachsene.

Denn das ist letztlich der freie Markt: Wer am besten lügt, der hat die Nase vorn.
Aber das kannte man ja auch schon von Pinocchio...
K.M.



Samstag, 31. März 2012
Freiheit und Gerechtigkeit
Die Formel für Freiheit und Gerechtigkeit scheint ganz einfach zu sein: Man gebe uns Freiheit, und die Gerechtigkeit stellt sich schon automatisch ein. Besonders die Ökonomen vertreten die Ansicht, dass ein freier Markt automatisch das optimale Ergebnis liefern werde. Und da von dem Optimum letztlich alle profitieren, bedeutet dies auch ein Höchstmaß an Gerechtigkeit.

Dies sieht auch unser neuer Bundespräsident so, der in seiner Antrittsrede von "Freiheit als Bedingung für Gerechtigkeit" sprach. Nur während gerade neoliberale Denker hier aufhören, dachte Joachim Gauck noch einen Schritt weiter; denn es gilt auch "Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen". Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit. Oder wie Gauck sagte: "Wir dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr, und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm, alt oder behindert sind."

Denn was bedeutet Freiheit an sich? Freiheit an sich ist zum Beispiel der freie Markt, der durch keine staatlichen oder gesellschaftlichen Regeln eingeschränkt wird. Und wer profitiert von einem solchen Markt? Allein die Starken. Diese setzen ihre Preise durch, diese bilden Kartelle oder Monopole und senken die Löhne auf ein Niveau, das zum Leben nicht reicht. Freiheit an sich ist erst einmal Anarchie.

Nur wenn man allen Menschen die Möglichkeit gibt, gleichermaßen an der Gesellschaft zu partizipieren, wenn Regeln geschaffen werden, die die Freiheit der Starken einschränken, damit auch die Schwachen ihre Freiheit erleben können, erst wenn es also Gerechtigkeit gibt, dann lebt man in einer wirklich freien Gesellschaft.

Erst wenn man die absolute Freiheit durch Gerechtigkeit einschränkt, dann können alle die Freiheit in einer Gesellschaft erleben. Gerechtigkeit braucht Freiheit - aber Freiheit braucht auch Gerechtigkeit, um zu existieren.
P.H.



Freitag, 23. März 2012
Aufschwung dank Agenda 2010?
Die Wirtschaft brummt derzeit, wie lange nicht mehr. Die Bundesagentur für Arbeit erwartet 2012 ein Rekordtief bei den Arbeitslosenzahlen - im Jahresdurchschnitt sollen unter 3 Millionen Menschen arbeitslos sein, nach gut 5 Millionen noch vor einigen Jahren.

Woran liegt es, dass Deutschland wirtschaftlich trotz der weltweiten Finanz- und Schuldenkrise so gut da steht? Vielen Ökonomen und Journalisten erscheint die Antwort klar: Natürlich nur wegen der Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010, die Deutschlands Arbeitsmarkt fit für die Zukunft machten. Wie die Zukunft aussah, konnte man schon seit Jahren in den USA beobachten: Immer mehr Menschen rutschen in den Niedriglohnsektor ab, und müssen zwei oder gar drei Jobs annehmen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Aber das muss man halt akzeptieren, soll das Land überleben (und die Oberschicht sich weiter aus der Finanzierung der Gesellschaft zurückziehen können).

Aber hat die Agenda 2010 wirklich etwas mit dem derzeitigen wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands zu tun? Reden wir doch mal über die Eurokrise: Länder wie Griechenland und Portugal leiden unter der gemeinsamen Währung, weil diese nun ihre Währungen nicht mehr abwerten und so den Export ihrer Produkte ankurbeln können. Auf der anderen Seite steht Deutschland: Unsere Währung wird im gemeinsamen Währungsraum trotz der großen Handelsüberschüsse nicht mehr aufgewertet. Aus Deutschlands Sicht, ist der Euro zu billig. Und deshalb brummt die Wirtschaft.

Dieses Phänomen kennen wir aus der Vergangenheit: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Industrienationen auf ein stabiles Währungssystem mit fixen Wechselkursen relativ zum Dollar geeinigt, dem sogenannten System von Bretton Woods. Als Deutschlands Wirtschaft wuchs, hätte er Exportüberschuss vor allem in die USA mit einer Verteuerung der D-Mark einhergehen müssen. Doch der Wechselkurs blieb stabil, die D-Mark war unterbewertet und deutsche Güter waren konkurrenzlos günstig. Das deutsche Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf.

Das Wachstum der deutschen Wirtschaft erlebte erste Dellen, als die D-Mark 1969 um 8,5% aufgewertet wurde. Als dann der Wechselkurs der D-Mark zum Dollar 1971 freigegeben wurde, wurde die D-Mark weitere 9% teurer. Das Wirtschaftswunder war vorbei. Freuen wir uns also über den billigen Euro, so langes es ihn noch gibt. Aber hören wir bitte auf zu behaupten, die neoliberale Agenda 2010 hätte irgendetwas mit der heutigen wirtschaftlichen Stärke Deutschlands zu tun.
J.E.



Samstag, 17. März 2012
Der Süden hat's gut
Die Schuldenkrise hat Europa immer noch im Griff, auch wenn der erfolgreiche Schuldenschnitt in Griechenland dem Kontinent nun etwas Luft verschafft hat. Was aber ist der Grund dafür, dass es besonders den Südländern wie Griechenland, Portugal und Spanien so schlecht geht? Die Antwort scheint allen klar: Die immensen Lohnsteigerungen, die die Südländer ihren Arbeitnehmern in den letzten Jahren genehmigt haben. Weil es denen so gut geht, leidet das Land.

Man kann jede beliebige Zeitung aufschlagen, und schon findet man eine Grafik, die die Lohnentwicklung der letzten Jahre darstellt. So stiegen die Löhne in Deutschland von 2000 bis 2011 um moderate 7 Prozent, in Spanien, Portugal oder Griechenland jedoch um das 3 bis 5fache. Da ist es ja kein Wunder, dass die Wirtschaft dieser Länder nicht mehr wettbewerbsfähig ist.

So zumindest die Propaganda, der wir tagtäglich ausgesetzt sind. Doch wer hat am Ende mehr: Ein Mensch, der zu einem Einkommen von 100.000 Euro fünf Prozent Erhöhung bekommt, oder ein Mensch, der zu einem Einkommen von 10.000 Euro 30 Prozent Erhöhung bekommt?

In den Zeiten des PISA-Schocks sind solche Rechnungen natürlich kaum zu bewältigen. Da beschwert man sich doch lieber, dass der Kollege mit einem Einkommen von 10.000 Euro eine so viel größere Erhöhung bekommt als der zehnmal reichere Mensch.

Tatsache ist jedoch, dass die Einkommen in den Südländern deutlich niedriger sind als in Deutschland - trotz dieser "immensen" Lohnsteigerungen in den letzten Jahren. Die waren ja auch gewollt, immerhin sollen sich die Lebensverhältnisse in der EU mit der Zeit angleichen. Wüchsen die Löhne in allen Ländern um denselben Faktor, dann bliebe die Kluft zwischen arm und reich ja auf Ewig bestehen. Doch selbst trotz dieser Steigerungen verdient ein Arbeitnehmer in Griechenland nur durchschnittlich 23.900 Euro im Jahr und der Arbeitnehmer in Deutschland 42.400. Ebenso ist die Kaufkraft der Arbeitnehmer in Deutschland deutlich höher als in den kriselnden Südländern.

Trotz dieser geringen Einkommen sollen die Südländer also nicht wettbewerbsfähig? Das erscheint nun doch komisch. Da verschweigt man lieber die absoluten Zahlen und berichtet nur von den viel höheren Lohnsteigerungen, um den Südländern Vorwürfe zu machen. Nie log man schöner mit Statistiken.
J.E.



Samstag, 10. März 2012
Gesetze? Wozu? Sind wir etwa verdächtig?
Was haben Länder wie Syrien, Somalia und Deutschland gemeinsam? Richtig, in all diesen Ländern können Abgeordnete sich bestechen lassen, ohne rechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Zwar gibt es seit 2005 eine UN-Konvention gegen Abgeordnetenbestechung, die mittlerweile in 150 Ländern umgesetzt wurde - nur eben nicht in Deutschland.

Anfang März unternahm die SPD mal wieder einen Versuch, diesen Umstand zu korrigieren und brachte ein Gesetz zur Abgeordnetenbestechung in den deutschen Bundestag ein. Die Debatte war hitzig, und das Ergebnis eindeutig: Ne, sowas wollen wir nicht.

Der Abgeordnete Jörg van Essen (FDP) wies darauf hin, "dass es im Kampf gegen Korruption wichtig sei, Abgeordnete zu haben, die finanziell nicht von der Politik abhängig seien." Wohlgemerkt: Das sollte ein Argument gegen die Notwendigkeit eines Abgeordneten-Korruptionsgesetzes sein.

Einen Schritt weiter ging der Abgeordnete der CSU, Wolfgang Götzer. Dieser warnte, "dass bei einer Verschärfung alle Abgeordneten unter Generalverdacht gestellt würden." Nach dem Motto: Beweist uns doch erst mal, dass viele von uns korrupt sind, dann könnt ihr ruhig ein Gesetz dagegen erlassen.

Warum gibt es dann eigentlich Gesetze gegen Diebstahl oder Mord? Diese Verbrechen werden doch auch nur von einer Minderheit begangen. Beweist uns doch erst mal, dass wir alle Diebe sind, dann dürfte ihr Gesetze gegen den Diebstahl erlassen...

Manch ein Abgeordneter legt hier ein eigenartiges Rechtsverständnis an den Tag. Oder hätte er durch so ein Gesetz etwas zu befürchten? Den Generalverdacht, den Herr Götzer vermeiden wollte, ruft er durch seine unbedachte Äußerung erst hervor. Es ist vielleicht doch keine gute Idee, wenn man Schafen erlaubt, die Regeln selber festzulegen, nach denen sie die Wiese abfressen dürfen...
K.M.



Samstag, 25. Februar 2012
Der Mythos des freien Handels
Der freie Handel ist das Lieblingskind unserer Ökonomen: Über Angebot und Nachfrage bildet sich im freien Spiel der Kräfte ein fairer Preis für eine Ware oder Dienstleistung. Mischt sich der Staat mit Reglementierungen ein, dann spiegelt der so entstandene Preis die Marktsituation noch nicht einmal ansatzweise wieder - und er ist entweder viel zu hoch oder viel zu niedrig. Soweit die Theorie.

In der Praxis sieht es eher so aus, dass Firmen, wenn sie sich unbeobachtet glauben, blitzschnell Kartelle bilden, um den Preis nach ihrem Gusto festsetzen zu können - und das freie Spiel der der Kräfte durch das Recht des Stärkeren ersetzen.

Oder man erzeugt völlig unverständliche Produkte, wie die Derivate, die die Weltwirtschaft 2008 in die Krise gerissen haben, und verlangt für den Schrott Mondpreise, weil eh niemand versteht, dass er hier nicht wertvolles, sondern nur Müll bekommt.

Der letzte Clou ist es, die Versorgungssicherheit mit Strom in Deutschland aufs Spiel zu setzen, nur um ein paar Euro extra zu verdienen. So haben die Stromhändler nach einem Vorwurf der Bundesnetzagentur Anfang Februar nicht den Bedarf eingekauft, den ihre Kunden tatsächlich benötigt hätten, sondern deutlich weniger. Schließlich war der Strom zu dieser Zeit wegen der Kältewelle in Europa und dem riesigen Bedarf in Frankreich deutlich teurer als sonst. Dieser fehlende Strom musste dann mit der für Notfälle vorgesehenen Regelleistung ausgeglichen werden, die den hübschen Vorteil hatte, dass sie deutlich günstiger zu bekommen war als der Strom an den Strombörsen. Dies hatte zur Folge, dass die Sicherheitsreserve Anfang Februar für mehrere Tage fast aufgebraucht war. Wäre in dieser Zeit ein Kraftwerk ausgefallen, dann hätte es in Deutschland einen großflächigen Blackout gegeben. Aber hätten die Händler sich regulär über die Börse mit Strom eingedeckt, dann hätten sie ja nicht die hübschen Gewinne einfahren können.

Als der Staat noch die Finanzgeschäfte und den Stromhandel kontrollierte, hatte es solche Auswüchse nicht gegeben, bei denen eine Minderheit sich auf den Kosten einer Mehrheit bereichern konnte. Doch jetzt ist der Handel frei.

Es ist nur Schade, dass er sich nicht an die hübschen und mathematisch ausgefuchsten Theorien der Ökonomen hält.
J.E.



Samstag, 18. Februar 2012
Arbeitet endlich mehr!
Ökonomen scheinen sich für Auguren zu halten, die die Zukunft vorhersagen können. Und wie bei der Offenbarung des Johannes sind die Zukunftsaussichten für Deutschland seit Jahren eher apoklyptischer Natur. So hat die OECD vor kurzem eine Studie veröffentlicht, nach der Deutschlands Wohlstand in Gefahr ist. So sei das langfristige, durchschnittliche Wachstum hierzulande mit 1,5 Prozenz schon niedrig, mittelfristig drohe es aber, auf 1 Prozent zu sinken. Wir werden alle arm!

Ne, Quatsch, wenn die Wirtschaft noch wächst, dann werden wir auch reicher. Die Mehrheit der Deutschen wird nur deshalb ärmer, weil die Regierung mit ihrer neoliberalen Politik den Zuwachs an Reichtum nicht mehr gerecht an alle Bürger verteilt.

Aber was kann man nach Einschätzung der OECD-Ökonomen dagegen tun, dass die Wirtschaft nur noch marginal wächst? Die Lösung ist einfach: Wir müssen endlich mehr arbeiten. So sollen "mehr Frauen in Beschäftigung und vor allem Vollzeitbeschäftigung" gebracht werden. Um das zu erreichen, solle die "kostenlose Mitversicherung von Ehepartnern, die nicht arbeiten, in der gesetzlichen Krankenversicherung ... abgeschafft werden, das schaffe Anreize für die Ehepartner, ebenfalls zu arbeiten."

Aber nicht nur die Frauen sind faule Säcke, die sich vor der Arbeit drücken, auch unsere Alten sollen endlich mehr arbeiten. "Auch für ältere Arbeitnehmer sollte es attraktiver werden, länger im Beruf zu bleiben. Dafür sei allerdings ein Umbau des Rentensystems nötig: Die Ökonomen empfehlen, dass bei der Berechnung der Rente künftig die letzten Berufsjahre besonders stark zählen sollten. Dann hätten Arbeitnehmer einen Anreiz länger im Beruf zu bleiben, weil sie ansonsten erhebliche Einschnitte bei der Rente befürchten müssten." Von wegen Frührente und dann mit fünfzig auf Mallorca! Das war einmal!

Aber Moment: Ist es nicht so, dass gerade ältere Menschen von Firmen vevorzugt aussortiert werden und dann keinen neuen Job mehr finden? Ist es nicht so, dass der einzige Wachstumsbereich in Deutschland der Niedrigohnsektor ist, wo die Menschen in prekären und zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnisse gerade so um die Runde kommen? Die OCED-Ökonomen unterstellen den Deutschen, dass sie nicht arbeiten wollen, dabei können sie nicht arbeiten, weil es in unserer hochtechnisierten Servicewüste kaum noch ausreichend Jobs gibt. Es ist ja nicht so, dass ein riesiges Angebot an anständig bezahlten Arbeitsplätzen auf eine nicht vorhandene Nachfrage stößt, die man durch Einschnitt im Sozialsystem, durch die man die faulen Schnorrer zum Arbeiten treibt, erhöhen kann. Vielmehr stößt eine große Nachfrage nach guten Jobs auf ein kaum vorhandenes Angebot. In einer solchen Situation auch noch Einschnitte im Sozialsystem vorzuschlagen, ist schon eine ziemliche Frechheit.

Wenn man schon die Zukunft vorhersagen will, dann sollte man sich doch erst etwas mit der Gegenwart bschäftigt haben.
J.E.



Samstag, 11. Februar 2012
Der Fall Griechenland
Griechenland ist das Sorgenkind Europas. Wird man das völlig überschuldete Land noch retten können? Wird es in die Insolvenz gehen? Noch ist alles offen. Sicher ist nur, dass wir kein weiteres Geld mehr geben wollen und die Griechen hart sparen sollen. Obwohl wir andererseits der Meinung sind, dass sich eine kriselnde Wirtschaft nur erholen kann, wenn man sogar noch mehr Geld in die Wirtschaft steckt. Aber Keynes Ratschläge gelten leider nur für Länder, die noch kreditwürdig sind.

Um Griechenlands Finanzen in den Griff zu bekommen, soll sogar ein "Sparkommissar" installiert werden. Dieser Vorschlag fiel nicht gerade auf Wohlgefallen. Bei Demonstrationen gegen die Sparpolitik in Griechenland wurden schon Nazi-Symbole gezeigt. Und die satirische Nachrichtensendung Les Guignols des französischen Fernsehens lässt bei den "Mitteilungen des Staatspräsidenten" direkt die deutsche Bundeskanzlerin auftreten. Am deutschen Wesen...

Sicher, unsere europäischen Nachbarn haben Fehler gemacht. So scheint es gerade in Griechenland relativ einfach zu sein, Millionen am griechischen Fiskus vorbei zu schleusen, wie die vor kurzem veröffentlichte Steuersünderdatei zeigt, nach der etwa 15 Milliarden Euro Steuern offen sind - etwa 7% des Bruttoinlandsprodukts. Doch auch in Deutschland werden Steuern hinterzogen. Und: Auch Deutschland konnte mehrmals in der jüngsten Geschichte seine Schulden nicht bezahlen. Deshalb die Hyperinflation Anfang der 1920er Jahre oder der Schuldenschnitt des Londoner Schuldenabkommens von 1953.

Aber was schert uns die Vergangenheit: Heute steht Deutschland glänzend da (wenn man mal das permanente Reißen der Maastricht-Kriterien ignoriert). Da kann man ruhig den arroganten Oberlehrer heraushängen lassen. Denn schließlich wird es für Deutschland nie mehr harte Zeiten geben. Ganz sicher nicht. So hoffen wir.

Doch die Geschichte neigt zu Wiederholungen. Und wir sollten aufpassen, dass aus dem Fall Griechenland dann kein Fall Deutschland wird; denn dieser Fall könnte tief sein.
K.M.



Samstag, 4. Februar 2012
Rechtsfreier Raum
Der Westen ist ja auf so manches stolz. Dazu gehört auch, dass die westlichen Demokratien ein Rechtsstaat sind - die Gesetze gelten für alle und jeden, für Reiche wie für Arme, für Starke wie für Schwache. Na ja, so lautet zumindest die Theorie.

Der US-amerikanische Supreme Court hat in einer bemerkenswerten Entscheidung Mitte Januar 2012 entschieden, dass religiöse Institute in den USA ein weitgehend rechtsfreier Raum sind. In dem Fall ging es um einen Lehrer, der wegen seiner Behinderung von einer Schule der Lutheraner gefeuert worden war. Nach amerikanischem Recht darf niemand wegen einer Behinderung diskriminiert werden. Doch Kirchen besitzen nun, wie das Oberste Gericht festgestellt hat, Narrenfreiheit.

Wir brauchen aber nicht erst in die USA zu gehen, um uns zu sehen, dass religiöse Institute Sonderrechte haben. So gilt zwar für Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen in Deutschland das allgemeine Arbeitsrecht - aber mit erheblichen Abweichungen. So kann die Kirche Kündigungen aussprechen, wenn der Mitarbeiter einen Lebenswandel führt, der nicht mit den Dogmen der Religion vereinbar ist - wie eine Scheidung oder den Austritt aus der Kirche. Sie kann dem Mitarbeiter aber auch kündigen, wenn er sich gegen die Dogmen der Kirche ausspricht, indem er z.B. für die Abtreibung eintritt. Eigentlich gilt das Recht in einem Rechtsstaat für alle. Doch die Kirche ist ja nicht von dieser Welt.

Geht es andererseits darum, dass die kirchlichen Einrichtungen ihr Handeln an den eigenen religiösen Grundsätzen ausrichten sollten, zeigen diese sich mit einem Male ungewohnt großzügig. So hat das Diakonische Werk der evangelischen Kirchen überhaupt kein Problem damit, eine firmeneigene Leiharbeitsfirma, die Dia Logistik, zu gründen, um über sie Mitarbeiter zu Hungerlöhnen zu beschäftigen. Auch der "Wohlfahrtsverband" der katholischen Kirche, die Caritas, gibt sich viel Mühe, die Löhne ihrer Mitarbeiter zu drücken.

Was dies mit Nächstenliebe zu tun hat, erscheint auf den ersten Blick nicht klar. Auf den zweiten müssen wir an Markus 10,25 denken: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt." Und nun verstehen wir, dass die Kirchen ihrer Mitarbeiter nur deshalb mit Dumping-Löhnen abspeisen wollen, weil sie um deren Seelenheil besorgt sind. Und wir dachten schon, es zeuge von Skrupellosigkeit.
P.H.