Wir sind stolz, Analphabeten zu sein
Der Mensch ist stolz, auf seine Zivilisation, auf seine Kultur. Goethe und Schiller, Shakespeare und Molière, van Gogh und Rembrandt, Beethoven und Mozart - wer könnte die Helden der menschlichen Kultur nicht zumindest benennen? Wer mit diesen Namen nichts anfangen kann, der wird schräg angesehen. Der will ein kultivierter Mensch sein?

Doch wie steht es mit Shockley, Faraday und Snell? Wer kann mit dem Erfinder des Transistors, dem Entdecker der Induktion und dem Entdecker des Brechungsgesetzes etwas anfangen? Was ist Induktion überhaupt?

Machen Sie sich keine Gedanken. Wer keine Ahnung von den Naturwissenschaften hat, muss nicht befürchten, dass man ihn für einen unkultivierten Deppen hält. Im Gegenteil: Gerade in den kultivierten Kreisen gilt es als fein, rein gar nichts von Technik und Wissenschaft zu verstehen, so wie man als Gentleman auch nichts von Sozialhilfe oder der Münchner Tafel wissen sollte.

Diese Woche gab es zwei Auktionen, die dies wunderbar belegen: Die Briefmarke "British Guiana" ein 2,5 Zentimeter mal 3,2 Zentimeter großes, rötliches Stück Papier wurde für 9,5 Millionen Dollar versteigert. Der von Jack Kilby gebaute erste Prototyp des integrierten Schaltkreises erreichte hingegen noch nicht einmal das Mindestgebot von einer Millionen Dollar.

Bei der Briefmarke mag es sich um ein kleines Kunstwerk handeln, beim Mikrochip jedoch um die Basis der Technik, die heutige Computer ermöglicht, Smartphones, Fernseher, Waschmaschinen, kurz: Alle Technik, mit der wir uns heute umgeben.

Es ist, als habe man mit diesem Mikrochip das erste Rad der Menschen verkaufen wollen, das erste geschriebene Wort der menschlichen Zivilisation. Doch das findet kein Interesse. Wir nutzen die Technik gerne, doch eigentlich wollen wir nichts mit ihr zu tun haben, so als handele es sich um eine schwere Krankheit, mit der man sich nicht anstecken möchte. Und so hüten wir uns vor ihr, und sind auch noch stolz darauf, technische Analphabeten zu sein.

Aber vielleicht liegt der Grund in unserem verletzten Ego. Schließlich zeigt die Technik uns jeden Tag aufs Neue unsere Grenzen (sonst müssten wir sie ja nicht einsetzen), während die Kunst uns vorspielt, wir könnten - einem Gott gleich - alles erreichen.
P.H.