Freitag, 22. Dezember 2023
Die Bahn hat die Lösung
Die Menschen regen sich immer so über die Verspätungen der Bahn auf. Doch dafür hat sie nun eine Lösung: Die S-Bahn München hat nun ein neues Symbol eingeführt: Eine Stoppuhr. Wird ein Zug wahrscheinlich innerhalb der nächsten zwei Minuten losfahren, dann wird nicht mehr die voraussichtliche Abfahrtszeit angezeigt, sondern eine Stoppuhr. Wann der Zug dann losfährt – in zehn Sekunden, zwei Minuten oder doch erst später, entscheidet die Bahn dann spontan.

Kommt man zum Beispiel am Ostbahnhof an und möchte Richtung Innenstadt, dann kann man raten, welche Bahn als nächstes fährt – vertut man sich, steht man am falschen Gleis und sieht die Bahn vom Nachbargleis davonfahren. Auch kann man nun raten, ob es sich noch lohnt, einen Sprint hinzulegen, um eine Bahn zu erreichen – oder ob es schon zu spät ist, weil man in zehn Sekunden nie oben auf dem Gleis ist. Vielleicht hätte man den Weg auch entspannt zurücklegen können. Aber wer möchte schon wissen, wann ein Zug fährt, wenn er die Bahn benutzt?

Die Bahn hat die Stoppuhr eingeführt, wie sie sagt, um mehr Flexibilität zu haben. Nun fahren die Züge nicht mehr in Reihenfolge des Fahrplans, sondern es gilt: Wer zuerst kommt, fährt zuerst. Nur sagt man dem Kunden nicht, wer zuerst fährt. Das passt aber zur allgemeinen Informationspolitik der Bahn, bei der der Kunde ohnehin nie im Fokus stand.

Der nächste Schritt zur Selbstoptimierung der Bahn ist dann schon klar: Der Fahrplan wird in Zukunft keine Abfahrzeiten mehr enthalten, sondern nur noch den Hinweis, wie viele Züge pro Stunde von A nach B fahren werden. So kann die Bahn sich am einfachsten selbst optimieren. Und Verspätungen gehören der Vergangenheit an

Gut, der Kunde ist noch verlorener als heute schon, doch wofür braucht die Bahn schon den Kunden?
K.M.



Sonntag, 30. Oktober 2022
Wir leben einen Traum
Die Energiepreise sind auf neue Höchststände gestiegen. Grund ist der Krieg in der Ukraine. Sollte der vorbei sein, so die Hoffnung, wird alles wieder gut. Man muss die Durststrecke nur ein paar Monate mit staatlicher Hilfe überbrücken, und dann ist alles wieder wie früher.

Doch tatsächlich ist dieser Anstieg nur ein Vorgeschmack auf die Zukunft. Die Nachfrage nach Energie steigt auf dieser Erde immens an. Der ökologische Fußabdruck für Deutschland ist etwa dreimal so hoch wie Deutschlands Ressourcen. Seit dem 28. Juli 2022 nutzt die gesamte Menschheit Ressourcen, die sie gar nicht besitzt. Sie kann dies, weil sie Ressourcen abbaut, die über Jahrmillionen entstanden sind. Aber sie kann das nicht für immer.

Die Erde ist endlich. Ihre Ressourcen sind endlich. Wir räumen gerade das Konto ab, von dem auch unsere Kinder und Enkel leben müssen. Die Ressourcen werden weniger, die Preise werden steigen, auch ohne Krieg. Aber wir zeigen gerade, dass wir nicht bereit sind zu verzichten. Wir wollen, dass die Partie immer weitergeht. Aber für eine endlose Partie braucht man Drogen. Und unsere Drogen sind die fossilen Rohstoffe, die zum einen die Umwelt stark belasten, und zum anderen irgendwann aufgebraucht sind. Die Partie kann nicht ewig weitergehen. Wir werden uns irgendwann einschränken müssen. Unseren Lebensstil, der unsere Erde und die Zukunft unserer Kinder bedroht, können wir nicht weiter aufrechterhalten.

Wir leben einen Traum. Und wir haben große Angst davor, aufzuwachen.
P.H.



Samstag, 30. April 2022
Umverteilung durch Privatisierung
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Politik es als ihre Aufgab angesehen, den wachsenden Reichtum des Landes allen zukommen zu lassen. Reiche wurden besteuert, um soziale Leistungen für Arme zu bezahlen. Das war eine Umverteilung von oben nach unten.

Doch seit den 1980er Jahren hat sich der Wind gedreht. Unter dem Deckmantel, dass die private Wirtschaft effizienter sei als der Staat, verbirgt man eine Umverteilung von unten nach oben: Man nimmt den Armen, um den Reichen zu geben. Da die wirklich armen Menschen kaum Geld haben, bedeutet dies meistens, dass man dem Mittelstand der Gesellschaft zur Beute macht.

Ein Beispiel haben vor kurzem Panorama und BR öffentlich gemacht: Private Investoren kaufen immer mehr Arztpraxen und drängen die Ärzte dann dazu, überteuerte und unnötige Behandlungen durchzuführen, damit die Rendite stimmt. Man nimmt das Geld der Armen, um es den Reichen zu geben, die ihr Geld diesen Investoren anvertraut haben. Und gerade im Gesundheitssystem ist das besonders pervers: Hier wird jeder Euro für die Gesundheit der Menschen gebraucht, doch skrupellos Investoren erhöhen durch fragwürdige Methoden ihre Rendite, um dieses Geld in die eigene Tasche zu stecken. Das gilt wahrscheinlich nur deshalb nicht als Diebstahl, weil die Investoren Nadelstreifen tragen.

So hilft die Privatisierung bei der Umverteilung. Der Staat hatte noch die Versorgung der Menschen im Auge und achtete nicht so auf die Rendite, Investoren kümmern sich nur um die Rendite. Im Bereich der Telekommunikation führt dies zu der absurden Situation, dass der Staat den Internet- und Mobilfunk-Ausbau auf dem Land bezahlt, und die Konzerne weiter fleißig Dividenden an die Aktionäre ausschütten. Privatisierung ist letztlich nur Diebstahl an der Gesellschaft. Aber so wird dafür gesorgt, dass die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden. Wieso das zum Wohl der Gesellschaft sein soll, erschließt sich wohl nur strenggläubigen Neoliberalen.
P.H.



Montag, 21. Februar 2022
Was ist denn der Skandal?
Ein Team von internationalen Journalisten hat geheime Unterlagen der Schweizer Bank Credit Suisse zugespielt bekommen, die belegen, dass die Bank bedenkenlos Geschäfte mit Kriminellen und Diktatoren macht. Aber: Hätte man das von einer Großbank nicht erwartet? Die Deutsche Bank hatte in vielen Skandalen der letzten Zeit ihre Finger drin gehabt, ebenso wie Goldman Sachs oder eben Credit Suisse. Man wird als Bank wohl nur groß, wie es scheint, wenn man es mit Regeln und Moral nicht zu genau nimmt. Bertolt Brecht hatte ganz recht, als er fragte: ?Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?? Nur dann kann man das wirklich große Geld machen.

Bank sind Machtfaktoren. Die Bilanzsumme der Credit Suisse ist größer als das BIP der gesamten Schweiz. Die Deutsche Bank schafft das nicht, kann aber immer noch eine Bilanzsumme aufbieten, die fast der Hälfte des deutschen BIPs entspricht. Solche Banken sind in der Wirtschaft das, was Schwarze Löcher im All sind: Sie biegen den Raum um sich, in diesem Fall den Raum der Rechtstaatlichkeit. Kein Staat traut sich wirklich, gegen sie vorzugehen. Sie haben Narrenfreiheit, sie sind ?too big to fail?.

Die Banken wissen das und nutzen das aus. Smith glaubte noch, dass eine ?unsichtbare Hand? das egoistische Handeln der Kapitalisten dennoch zum Guten für alle Bürger wenden werden. Die Banker zeigen uns, dass diese unsichtbare Hand eher damit beschäftigt ist, dem Volk das Geld aus der Tasche zu ziehen; läuft bei ihnen etwas schief, dann zahlt der Steuerzahler.

Langsam müssen wir uns fragen, ob wir wirklich wollen, dass es in unserer Mitte Einheiten gibt, die so groß sind, dass sie sich de facto nicht mehr an die Gesetze halten müssen, die also über dem Gesetz stehen. Und wenn wir das nicht wollen: Reicht dann die Hoffnung, dass alles schon gut gehen werde, aus, um mit diesem Problem umzugehen?
P.H.



Samstag, 26. Juni 2021
Nichts sehen
Gestern hat der Bundesrat dem Lieferkettengesetz zugestimmt, das nun in Kraft treten kann. Die Idee dahinter ist, dass deutsche Unternehmen sicherstellen sollen, dass ihre Produkte nicht durch Ausbeutung von Menschen und Umwelt in den Entwicklungsländern entstehen.

Heute ist es oftmals noch so, dass viele Menschen in den armen Ländern unter erbärmlichen Bedingungen arbeiten müssen, dass oftmals Kinder arbeiten müssen, und dass die Umwelt gnadenlos zerstört wird, nur damit wir billige Produkte haben und die Industrie große Gewinne einfahren muss.

Dass soll nun verhindert werden. Allerdings nimmt die Union natürlich Rücksicht auf Unternehmen: Diese müssen nur bei direkten Zulieferern aktiv werden, die gesamte Lieferkette ist nicht in ihrem Blick. Schließlich soll das Gesetz ja keine Arbeit verursachen. Und damit de facto auch nicht wirken.

Da haben es die Unternehmen wieder einmal geschafft, ihre Gewinne durch aktive Lobbyarbeit zu sichern. So ist halt die Welt: Die Mächtigen sorgen schon dafür, dass ihnen niemand Probleme bereitet.

Aber können wir die Schuld nur auf die Unternehmen schieben? Sicherlich haben sie durch ihre Lobbyarbeit das Gesetz stark verwässert und praktisch unbrauchbar gemacht. Doch hätten wir uns ein wirksames Gesetz wirklich gewünscht? Lieben wir es nicht, billige Produkte zu kaufen ? die eben deshalb billig sind, weil die Unternehmen die Produktion in Gebiete verlegt haben, wo die Mitarbeiter erbärmliche Arbeitsbedingungen haben und die Umwelt nicht geschützt werden muss?

Vor einigen Jahren hat sich ein Kabarettist auf einen Markt gestellt und T-Shirts verkauft. Er verkaufte sie mit dem Slogan: Besonders billig, da durch Kinderarbeit hergestellt. Die Menschen rissen ihm die preisgünstigen T-Shirts förmlich aus der Hand.

Mitleid mit anderen ist nicht unsere Stärke. Aber wenn wir nicht wissen, wie unsere Produkte entstehen, dann müssen wir uns wenigstens kein schlechtes Gewissen machen.
K.M.



Samstag, 12. Dezember 2020
Der freie Markt regelt alles zum Guten
Für Ökonomen ist der Markt beinahe eine göttliche Kraft, die nur das Gute will und dafür sorgt, dass es allen Menschen besser geht – wenn nur der böse Staat sich nicht immer einmischen würde. Deshalb geht es den Menschen in den Industrieländern heute gut, weil die Nachfrage der Arbeitgeber nach qualifizierten und motivierten Arbeitskräften dafür gesorgt hat, dass soziale Sicherungen aufgebaut wurden und die Löhne stiegen. Ohne den Staat, so das Mantra der vor allem neoliberalen Ökonomen, herrsche bald das Paradies auf Erden.

Tatsächlich?

Ein Blick in die Geschichte zeigt ein ganz anderes Bild. Die Krankenversicherung in Deutschland wurde von Bismarck eingeführt, um die Arbeitervereine zu schwächen. Die boten ihren Mitgliedern nämlich eine rudimentäre Krankenversicherung an. Bismarck zwang die Arbeiter (und nicht die Beamten und Selbstständigen, die dem Staat ja schon treu waren) in die Krankenversicherung, damit sie kein Geld mehr hätten, um die Arbeitervereine zu unterstützen. Er wollte mit der Einführung der Krankenversicherung nicht den Arbeitern etwas Gutes tun, sondern die Arbeiterbewegung im Gegenteil schwächen, was ihm dann jedoch nicht gelang. Die von ihm eingeführte merkwürdige Teilung der Krankenversicherung haben wir in Deutschland jedoch bis zum heutigen Tage beibehalten.

Der nächste große Schritt für besser Arbeitsverhältnisse war das Stinnes-Legien-Abkommen von 1918. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Abschaffung der Monarchie befürchteten viele Unternehmer die Verstaatlichung der Unternehmen. Um das zu verhindern traf sich der Arbeitgeberführer Hugo Stinnes mit dem Gewerkschaftsführer Carl Legien. Dieser kannte die Befürchtungen der Unternehmer. Im Versprechen, dass die Unternehmen nicht verstaatlicht würden, rang er den Unternehmern viele Zugeständnisse ab, die wir heute für selbstverständlich halten – und die, in den Legenden der Ökonomen, die Arbeitgeber den Arbeitnehmern freiwillig zugestanden hatten, weil die Arbeitgeber motivierte Mitarbeiter suchten. Dazu gehörte die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft, das Regeln der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge, die Einführung von Betriebsräten und der 8-Stundentag.

Einige dieser Leistungen wurden dann auch von Arbeiterbewegungen in anderen Ländern erkämpft, andere gibt es dort jedoch immer noch nicht. Wahrscheinlich müssen die Arbeiter dort nicht so stark motiviert werden wie die Arbeiter in Deutschland.

Oder die Geschichte vom Markt, der alles zum Guten regelt, ist nur ein Märchen.
P.H.



Sonntag, 26. Juli 2020
Immer diese Bürokratie
Nervt Sie das auch so? Man hat den Eindruck, dass die Bürokratie immer schlimmer wird. Nun ist Wirecard spektakulär Pleite gegangen, und schon gibt es neue Ideen aus dem Finanzministerium , wie man Firmen besser überwachen kann – was dann auch wieder mehr Bürokratie bedeutet.

Andererseits hat gerade das Land Berlin Erfahrungen mit wenig Bürokratie gemacht. Es wollte die Corona-Hilfen schnell auszahlen, und hat den Antrag deshalb sehr einfach gestaltet. Mit der Folge, dass es zu zahlreichen Betrugsfällen kam.

Das ist die Krux an der Bürokratie: Eigentlich will sie keiner. Auch der Staat und seine Beamten sind keine Organisation, die das Leben auf jeden Fall komplizierter machen will. Das Problem ist nur: Dann gibt es einige Hersteller, die ihre giftigen Abfälle in der Umwelt entsorgen, und schon muss man Protokoll darüber führen, wie die Abfallentsorgung läuft. Dann gibt es Händler, die ihre Einnahmen nicht versteuern, und schon muss jeder Händler bei einem Verkauf einen Bon verteilen. Dann gibt es…

Man könnte die Liste ewig weiterführen. Klar ist nur: Bürokratie ist kein Selbstzweck. Sie entsteht nicht, weil sich ein paar Beamte langweilen, sondern weil es ein paar Menschen gibt, die sich nicht an die Regeln halten. Und wegen dieser Ausnahmen müssen nun alle genauer kontrolliert werden; denn leider weiß man nicht, wer die Ausnahmen sind. Sonst könnte man sich auf diese beschränken.

Wer über zu viel Bürokratie jammert, sollte nicht dem Staat die Schuld geben, sondern den Kollegen, die keine Lust hatten, sich an Regeln zu halten.
K.M.



Samstag, 4. April 2020
Das Primat der Ökonomie
Wer kann sich noch an den Beginn der 2000er erinnern? Damals war Deutschland der kranke Mann Europas, was Schröder bewog, seine unsägliche, neo-liberale Agenda 2010 anzukündigen, weil er auf Ökonomen hörte, die ihm sagten, dass die Wirtschaft dann am stärksten wächst, wenn die Steuern niedrig sind und die Arbeitnehmerrechte gering. So wie auch in den 1950er und 1960er Jahren, als der Spitzensteuersatz viel höher lag und die Arbeitnehmer als gleichberechtigte Partner angesehen wurden. Ne, das ist ein schlechtes Beispiel. Genau genommen gibt es kein Beispiel, dass steigende Ungleichheit mit einer wachsenden Wirtschaft verbindet, so wie es die Agenda 2010 realisieren wollte. Das Gegenteil ist richtig: Denn die Arbeitnehmer sind die Konsumenten. Geht es ihnen schlecht, dann kann eine Wirtschaft nicht stabil florieren.

Aber der Hauptpunkt der Kritik an Deutschland damals war, dass Deutschland noch ein überholtes Wirtschaftsmodell fuhr: Man produzierte im eigenen Land! Andere, fortschrittliche Länder wie die USA und Großbritannien hatten die Produktion schon überwiegend ins Ausland verlegt und konzentrierten sich auf die margenstarke Finanzwirtschaft. Deutschland hinkte dem hinterher. Die Trägheit der deutschen Wirtschaft, die die Arbeitnehmer in die Entscheidungen einbinden wollte, war unfassbar groß.

Dann kam die Krise 2008 – und Deutschland überstand sie halbwegs unbeschadet, weil das Land nicht so stark von der Finanzwirtschaft anhing. Derivate konnte man nicht essen, wie man damals feststellte. Und nun haben wir die Corona-Krise – und wären froh, wenn wir noch mehr im Land produzieren würden.

Aber die Ökonomen wussten es ja besser. Sie haben uns ja auch geraten, die Krankenhausbetten abzubauen, damit die Krankenhäuser effizienter sind. Deutschland war auch hier wieder etwas langsam, weil es immer noch starke Kräfte gibt, die sich jedem Fortschritt in den Weg stellen – und profitiert derzeit davon. Hohe Effizienz würde heute Knappheit bedeuten. Länder wie Italien, Spanien und die USA waren da deutlich effizienter. Und irgendwie scheinen sie es nun zu bedauern.

Was lernen wir daraus? Am besten macht man genau das Gegenteil von dem, was einem die Ökonomen empfehlen.

Oder anders: Es würde den Ökonomen nicht schlecht zu Gesicht stehen, sich auch einmal mit der Realität zu befassen.
P.H.



Mittwoch, 13. November 2019
Wissenschaftsnutten
Wissenschaftsnutten? Was soll das sein? Nun, dabei handelt es sich um einige Wissenschaftler, die einen Doktor- oder sogar Professorentitel erhalten haben, diesen jedoch nicht dafür einsetzen, um wissenschaftlich zu arbeiten, sondern um mit Hilfe dieser „Adelung“ Propaganda für die Industrie zu machen.

Nehmen wir ein Beispiel: Die Initiative neue soziale Marktwirtschaft (INSM), eine neoliberale Lobby-Plattform, die von einer Werbeagentur im Auftrag von Arbeitgeberverbänden betrieben wird, wettert gegen alles, was irgendwie sozial sein könnte. Neue soziale Marktwirtschaft bedeutet in ihrer Lesart vor allen, dass sie asozial sein sollte und nur gut für die Reichen.

Im Moment wettert die INSM gegen die Grundrente. Diese sei einfach nur ungerecht. Und sie bekommt Unterstützung von einem bekannten Rentenexperten: Professor Bernd Raffelhüschen. Man kennt ihn schon von der großen Rentendiskussion zum Beginn des 21. Jahrhunderts, als rot-grün dann das Rentenniveau senkte und die Riester-Rente einführte. Die Idee war, dass man an ansteigenden der Rentenzahlung in einigen Jahren um bis zu vier Prozent verhindern wollte – indem die Leute heute schon vier Prozent ihres Einkommens zur Seite legen sollten.

Dass dies sinnvoll ist, hat er Raffelhüschen immer wieder bestätigt. Es hat vor allem zwei Vorteile: Die vier Prozent der Riester-Rente werden vom Arbeitnehmer alleine gezahlt und müssen nicht zur Hälfte vom Arbeitgeber übernommen werden wie bei er gesetzlichen Rente. Und die Riester-Rente ist privatwirtschaftlich organisiert, was „Experten“ wie Herrn Raffelhüschen sehr wichtig war. Denn nur so kann die Versicherungswirtschaft riesige Gewinne damit einfahren. Natürlich wurden diese beiden enormen Vorteile für die Unternehmen nicht thematisiert. Man sprach lieber von „demographischer Gerechtigkeit“ als Grund für die teilweise Umstellung des Rentensystems.

Mit ihren seriösen Titeln als Professor können Wissenschaftsnutten, die sich in den Dienst der Reichen stellen und Propaganda für sie betreiben, somit einen größeren Schaden anrichten als manch ein Terrorist.
J.E.



Samstag, 27. Juli 2019
Verabreicht die Medizin, bis der Patient stirbt
Seit dem großen Crash 2008 gab es keine größere Rezession mehr. Die Wirtschaft wächst weltweit, in dem einen Land etwas stärker, in dem anderen etwas schwächer. Um die Wirtschaft anzukurbeln, hatten die Notenbanken weltweit die Zinsen gesenkt. In den USA und Europa sogar bis auf null Prozent. Dieser Stimulus sollte so lange weitergehen, wie die Inflation auf niedrigem Niveau war.

In den USA hatte man vor einigen Quartalen wieder angefangen, die Zinsen anzuheben. Dort liegt man nun bei knapp 2,5 Prozent. In Europa hat man sich das noch nicht getraut. Der große Boom blieb vor allem in den Südländern aus, also ließ man die Zinsen bei Null – und für die Einlagen der Banken bei der Zentralbank verlangt man sogar einen Strafzins von 0,4 Prozent. Man konnte es sich leisten. Die Inflation blieb niedrig.

Doch nun schwächelt die Wirtschaft wieder – und die Zentralbanken wollen die Wirtschaft ankurbeln, in dem sie die Zinsen senken. Auch die Europäische Zentralbank will die Zinsen senken – selbst, wenn diese immer noch bei null Prozent sind. Man wird wohl die Strafzinsen weiter erhöhen und so jeden bestrafen, der Geld spart.

Die Idee ist immer noch dieselbe: Mit billigem Geld kurbelt man die Wirtschaft an. Dass dann die Inflation steigt, muss man für eine gewisse Zeit in Kauf nehmen.

Frustrierend ist nur: Selbst Zinsen von Null Prozent haben nicht zu einem Wirtschaftsboom geführt, und die Inflation bleibt niedrig. Könnte es sein, dass das Rezept nicht funktioniert? Könnte es sein – man wagt es kaum auszusprechen – dass die Ökonomen sich irren und billiges Geld nicht zu einem Wirtschaftswachstum führt?

Nein, das kann nicht sein. Ökonomen können sich nicht irren. Wenn die Maßnahmen keine Effekte zeigen, dass kann das nur heißen, dass die Maßnahmen nicht weit genug gingen. So dachten auch die Ärzte des Mittelalters: Wenn trotz Aderlass der Patient nicht gesund wurde, dann ließ man eben noch mehr Blut ab.

Der Patient starb zwar, aber zumindest hatte man alles getan, was man konnte.
P.H.