Dienstag, 1. November 2011
Wem kann man noch trauen?
Nun also der Mindestlohn. Obwohl wir dank der Zeitumstellung am letzten Oktoberwochenende ungewöhnlich ausgeschlafen waren, glaubten wir doch zu träumen, als wir in den Nachrichten hörten, dass unsere Bundeskanzlerin sich nun für die Einführung eines Mindestlohns in Deutschland einsetze. Ausgerechnet Frau Merkel! Als im Jahr 2008, zu Zeiten der großen Koalition zwischen SPD und Union, schon einmal die landesweite Einführung eines Mindestlohns diskutiert worden war, da hatte Frau Merkel sich dagegen ausgesprochen. "Wir glauben, hier würden wir Barrieren aufbauen, wo Menschen sonst den Einstieg in einen Aufstieg für ihr Leben finden könnten", wie sie damals sagte.

Mindestlöhne, so das allgemeine Credo, kosten Arbeitsplätze. Gut, wissenschaftlich wurde das nie nachgewiesen, im Gegenteil wo immer man Mindestlöhne eingeführt hat, da kam es nicht zu dem befürchteten Arbeitsplatzabbau. Ein besonders überzeugendes Experiment wurde vor einigen Jahren in Florida durchgeführt. Im Jahr 2004 lag der landesweite Mindestlohn in den USA bei $5,15. Bei einer Abstimmung in Florida stimmten die Wähler für eine Anhebung des Mindestlohns auf $6,15 und legten außerdem fest, dass der Mindestlohn jährlich automatisch mit der Inflation steigen solle. Wieder hatten die Experten vor großen Arbeitsplatzverlusten gewarnt – doch man musste feststellen, dass sich diese auch ein Jahr nach Erhöhung des Mindestlohnes einfach nicht einstellen wollen. Stattdessen hatte Florida 248.000 neue Jobs geschaffen, während die Arbeitslosenrat auf ein 30-Jahrestief fiel.

Aber selbst empirische Beweise, dass ein Mindestlohn keine negative Auswirkung auf die Beschäftigtenzahlen hat, hindern einen Politiker natürlich nicht daran, felsenfest vom Gegenteil überzeugt zu bleiben.

Ein bisschen erinnert das an die Diskussion um die Atomenergie. Seit Jahren wussten alle, dass die Atomenergie eine riskante Technologie ist, bei der es zu schweren Unfällen kommen kann, seit Jahren wusste man, dass die Frage der nuklearen Endlagerung völlig ungeklärt ist, und so schnell auch nicht geklärt würde - und dennoch hatte Frau Merkel beschlossen, dass die Atomenergie eine zukunftsträchtige Technologie sei, weshalb die schwarz-gelbe Bundesregierung aus dem von rot-grün beschlossenen Atomausstieg ausstieg. Dann kam die Katastrophe von Fukushima, und plötzlich sah alles ganz anders aus. Schneller noch als sogar rot-grün dies vorgesehen hatte, wurden die ersten Atomreaktoren in Deutschland abgeschaltet.

Man kann ja verstehen, dass Politiker ihre Fahne nach dem Wind drehen, um bei der nächsten Wahl die Chance zu erhöhen, wiedergewählt zu werden. Doch sowohl im Fall der Atomenergie als auch im Fall der Mindestlöhne hat uns die Regierung von Frau Merkel überzeugende Argumente vorgelegt, die gar keinen anderen Schluss zuließen, als das die Atomenergie eine zukunftsfähige Technik ist und ein Mindestlohn völliger Unsinn. Man hat ihren Worten vertraut. Und jetzt vertraut Frau Merkel ihren eigenen Worten nicht mehr.

Wie soll man aber unseren Politikern noch vertrauen, wenn sie sich sogar selber nicht mehr vertrauen?
P.H.