Unter Beschuss
Wachte man Freitagmorgen auf, dann konnte man es kaum glauben: In der Nacht war bei den Feiern zum Nationalfeiertag in Nizza ein Terrorist mit einem LKW in eine Menschenmenge gefahren und hatte mindestens 84 Menschen getötet. Und einen Tag später wurde man mit der Nachricht überrascht, dass das Militär in der Türkei geputscht hatte. Der Putsch wurde niedergeschlagen, auch weil das Volk sich gegen die Putschisten gestellt hatte. Und man kann zwar eine Regierung stürzen, aber nicht das ganze Volk.

Die Armee hatte den Putsch angezettelt, weil sie die Demokratie in Gefahr sah - auch wenn sie selber nicht gerade demokratisch agiert. Doch Erdogan baut seine Macht immer weiter aus - und schert sich nicht um Gesetze. Kaum waren die Schüsse verhallt, da wurden auch schon 3000 Richter entlassen. Es gab doch tatsächlich immer noch Richter in der Türkei, die nicht im Sinne Erdogans urteilen.

Vorher schon hatte Erdogan den Staat nach seiner Facon gestrickt. Wer an türkischen Universitäten Meinungen vertritt, die Erdogan nicht gefallen, muss damit rechnen, seinen Job zu verlieren. "Normale" Bürger werden in diesem Fall wegen Beleidigung des Präsidenten angeklagt - allein 1845 Mal im letzten Jahr. Und Abgeordnete verlieren pauschal ihre Immunität - schließlich soll sich niemand erdreisten können, dem Sultan vom Bosporus zu widersprechen. Und wenn ein Gericht den protzigen Präsidentenpalast zu einem Schwarzbau erklärt, dann ficht das Erdogan nicht an - er steht schließlich über dem Gesetz.

Bei all diesen Verfehlungen des Präsidenten erscheint es verwunderlich, dass die Türken sich den Putschisten in den Weg gestellt haben. Hatten sie befürchtet, dass es noch schlimmer kommen könnte?

Oder leiden sie schon am Stockholm Syndrom, bei dem Opfer ein emotional positives Verhältnis zu den Tätern aufbauen?

Was auch immer der Ausgang des Putsches war - die Demokratie hat auf jeden Fall verloren.
J.E.