Sonntag, 16. Oktober 2011
Gegen die "Auswüchse" des Kapitalismus
Am letzten Samstag, dem 15.10.2011, folgten viele Menschen in Europa dem Beispiel der Amerikaner. Dort hatte sich die Wut gegen die Zockerei der Banken derart ausgestaut, dass eine Bewegung mit dem Namen "Occupy Wall-Street" regen Zulauf findet und schon fast an die legendären Montagsdemos in Leipzig vor der Wende erinnert - vielleicht dereinst mit einem ähnlichen Erfolg.

Die deutschen Demonstrationen fanden unter dem Titel "Besetzt Frankfurt" statt. In Frankfurt hatte man sogar Zelte vor der Europäischen Zentralbank aufgeschlagen. Nachdem eine Zeltstadt auf dem Kairoer Tahrir-Platz schon umwerfenden Erfolg hatte (verzeiht das Wortspiel), können wir der Frankfurter Version nur einen vergleichbaren Erfolg wünschen.

Etwas verwundert jedoch die Forderung der Demonstranten. Sie will die "Auswüchse des Kapitalismus" stoppen. Wovon genau reden die Demonstranten da?

Der Kapitalismus ist in seinem Kern ein menschenverachtendes Wirtschaftssystem. Es gelten die von Herbert Spencer verbreiteten Gesetzes des sozialen Darwinismus, des Kampfes eines jeden gegen jeden (was nichts mit dem biologischen Darwinismus zu tun hat, der viel humaner ist). Arbeiter werden ausgebeutet, die Armen werden ärmer und die Reichen werden reicher. Der Kapitalismus braucht keine Demokratie. Wie Chile unter Pinochet oder das heutige China zeigen, floriert er auch in totalitären Systemen.

Doch in keinem klassischen Industrieland der Erde (Zweifel mögen im Fall der USA angebracht sein) herrscht heute wirklich Kapitalismus. Nach den Erfolgen der Arbeiterbewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich in allen Industrieländern ein demokratisches System der Wirtschaft etabliert, dass durch zahlreiche Maßnahmen wie eine progressive Einkommensteuer oder soziale Sicherungssysteme versucht, die Grausamkeiten des kapitalistischen Systems zu mildern. In Deutschland läuft dieses Wirtschaftssystems unter dem Markennamen "soziale Marktwirtschaft", doch auch wenn die Engländer, Franzosen oder Japaner ihr Wirtschaftsystem nicht so nennen - es ist im Grunde kein Kapitalismus, sondern eine soziale Marktwirtschaft.

Damit könnte alle Welt zufrieden sein. Doch die pseudowissenschaftliche Ideologe des Neoliberalismus setzt alles daran, die Uhr wieder zurück zu drehen. All die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft, die alle Menschen eines Landes am Wohlstand des Landes teilhaben ließ und die Grausamkeiten des Kapitalismus milderten, werden heute unter Schlagworten wie "Eigenverantwortung" und "Freiheit" in Frage gestellt - und sorgen damit für die Ungerechtigkeiten, gegen die die Protestanten zu Recht auf die Straße gehen.

Mit ihrem Protest sind die Demonstranten also nicht dafür, die "Auswüchse" des Kapitalismus zu reduzieren - denn der Kapitalismus ist nie und nimmer sozial -, sondern sie sind dagegen, dass neoliberale Ideologen die Solidargemeinschaft immer weiter zerschlagen und die Menschen dem Egoismus und der Gier einer Minderheit wieder schutzlos ausgeliefert sind. Kurz, sie sind dagegen, dass unser System der sozialen Marktwirtschaft gegen ein System des Kapitalismus ausgetauscht wird, das auch ohne "Auswüchse" menschenverachtend ist.
J.E.